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Spieltheorien

  1. Spiel zum Zweck der Erholung
    Das 18. Jahrhundert war das der Pädagogik. Man begann, sich für das Kind und sein Spiel zu interessieren, die Kindheit als vom Erwachsenen abgegrenzter Raum war entdeckt worden. Bis zu diesem Zeitpunkt nämlich galten Kinder als kleine Erwachsene, die völlig in die Erwachsenenwelt integriert wurden und somit auch die ernste Seite des Lebens kennenlernten. Es war keine selbstverständliche Assoziation, Kinder mit dem Spiel zu verbinden. In sozial minder gestellten Schichten war es notwendig, die Arbeitskraft der Kinder einzusetzen, um Besitz und Haushalt zu erhalten. Kinderwelt und Erwachsenenwelt waren auch hinsichtlich der Spielmittel nicht unterscheidbar. Mitunter spielten sie gemeinsam, wenn es die Zeit erlaubte. So wurde das Spiel als eine Form der Erholung, als Ausgleich und Abwechslung zur Alltäglichkeit gesehen. Im Spiel sollen Kräfte gesammelt werden.
  2. Spiel zur Persönlichkeitsentfaltung
    Schiller macht das Spiel zum Schlüsselbegriff seiner Philosophie der Freiheit und meint: ...der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. ...(zit.bei Scheuerl in [103], S.35). Im Spiel entfaltet der Mensch seine individuelle Persönlichkeit. Fröbel sieht im Spiel die Möglichkeit, den schöpferischen Kräften freien Lauf zu lassen, was ebenfalls der Persönlichkeitsentwicklung zugute kommt.
  3. Spiel als Ventilfunktion
    Der englische Naturphilosoph Herbert Spencer vertritt die Meinung, daß angestaute Kräfte den Menschen dazu veranlassen, diesen Kräfte- oder Energieüberschuß in harmlosen Scheintätigkeiten, wie dem Spiel, abzulassen. Psychologen führten diesen Ansatz weiter und entwickelten die Katharsistheorie. Diese geht in ihrer ursprünglichen Form auf Aristoteles zurück, der davon ausgeht, daß eine durch Erregung von Mitleid und Furcht ausgelöste Reinigung des Gemüts eintritt. Auch Psychologen wie z.B. Dollard vermuten, daß durch Ablassen der überschüssigen Energien reinigende, besänftigende und therapeutische Wirkungen erzielt werden können. Psychologische Therapien stützen sich besonders auf diese Theorie: Durch Spiel wird dem Mensch die Möglichkeit gegeben, seine ursprünglich aggressiven, gesellschaftsfeindlichen Triebe auf unschädliche Weise abzureagieren, so daß mit einer Verringerung affektiver Impulse auch in anderen Lebensbereichen gerechnet werden kann. Im Zusammenhang mit Aggressionen ist die katharsische Wirkung umstritten. Bandura konnte durch zahlreiche Experimente feststellen, daß das Aggressionspotential durch aggressives Spielen vielmehr erhöht als reduziert wird, obwohl ja erwartet wird, daß durch das ''Ablassen der Triebenergien'' eine beruhigende Wirkung eintritt. Wahrscheinlich spielen in diesem speziellen Fall Lern- und Verstärkungseffekte eine zusätzliche Rolle (s.a. Kapitel Aggressionen).
  4. Spiel als Einübung
    Als Vertreter der Einübungstheorie ist Karl Groos zu nennen. Im Spiel kann in harmloser Weise die Welt der Erwachsenen vorweggenommen werden. Es ermöglicht das Erlernen von Handlungsformen, ist Training für physische und geistige Kräfte. Es dient dem Erwerb gesellschaftlich notwendiger Rollen und kann als Vorübung für das Erwachsenenleben interpretiert werden.
  5. Spiel als Sozialisationsfaktor und Lernfeld
    Nach Meinung von Brian Sutton Smith ...sozialisiert das Spiel den Heranwachsenden für die ihn erwartende gesellschaftstypischen Situationen ...zitiert bei(Scheuerl in [103], S.45). Im Spiel können neben sozialem Verhalten, Werte und Normen der Gesellschaft übernommen werden. Das Spiel vermittelt dem Spielenden Handlungskompetenz und Sicherheit. Entsprechend der Entwicklungsstufe können Kinder sensorische, motorische, kognitive, affektive und soziale Fertigkeiten durch das Spiel entwickeln und an rollenspezifische Verhaltensweisen herangeführt werden. Bernhard Kroner spricht in diesem Zusammenhang von einer Doppelfunktion des Spiels: ...daß Spiel und Spielzeug nicht in die Welt der Erwachsenen einführen, sondern immer nur in bestimmte Wertauffassungen. Somit sind Spiele und Spielzeug das kindgerechte Medium sozialer Kontrolle, um die Kontinuität gesellschaftlicher Standards zwischen Kinder- und Erwachsenenwelt herzustellen und zu verstärken ...[69] S.10. Spiel hat also demnach nicht nur Bedeutung für das einzelne Kind, sondern auch für die Gesellschaft.
  6. Spiel als Aktivierungszirkel
    Heinz Heckhausen, ein Vertreter der Motivationspsychologie, stellt im Spiel der Kinder ein ...konstitutives Verhältnis zwischen Spannung und Lösung ...fest, (zit. bei [112], S.805), das er als Aktivierungszirkel bezeichnet. Der Spieler versucht im Spiel Spannungen zu suchen, zu erzeugen und aufrecht zu erhalten. Gemäß Erregung - Höhepunkt - Entspannung ergibt sich eine Spannungskurve, die zu erhalten als lustvoll empfunden wird, indem bestimmte spannungsreiche Spielelemente immer wieder wiederholt werden ( z.B.zielen-schießen-umfallen; aufbauen-zerstören).
  7. Spiel hat wunscherfüllende Funktion
    Freud schreibt dem Spiel gemäß dem Lustprinzip, wunscherfüllende Funktion zu. Das Spiel bietet für das Kind einen gewissen Schutzraum, in welchem es auch tabuisierte Gefühle und Bedürfnisse ausleben kann, ohne Strafe befürchten zu müssen. Durch Identifikation mit mächtigen Personen, die entweder bewundert, geliebt, verehrt oder aber auch gefürchtet und die ins Spiel hereingenommen werden, können Angstgefühle abgebaut und besser bewältigt, aber auch Wunschvorstellungen ausgelebt werden. Dieser Interpretation stimmt auch der Psychologe Wygotski zu. Er versteht Spiel ...als eingebildete, illusionäre Realisation unrealisierbarer Wünsche ...(Wygotski 1933), zit.bei [93] S.177. Kinder wollen ihrem meist geäußerten Wunsch, nämlich''groß und stark sein''entsprechen. Sie wollen erwachsen sein und all das machen, was auch Erwachsene tun. Die Zeit bis dahin dauert ihnen viel zu lange. Fragen, ''wann bin ich groß'' - '' kannst du mich mal nachmessen, wie groß ich schon bin'', verdeutlichen diesen Wunsch. Sie setzen Körpergröße mit dem ''erwachsen sein'' gleich. Aber das Spiel bietet ihnen eine schnelle Alternative und Befriedigung.
  8. Spiel zur Realitätsbewältigung und Therapie
    Im Spiel bringen Kinder ihre Gedanken und Gefühle zum Ausdruck, auch solche, die ihnen unbewußt sind. Besonders das Phantasiespiel ermöglicht ein Ausleben dieser Emotionen und kann Einblick in die Seele und dem inneren Gemütszustand geben. Diese Überlegungen macht sich die Spieltherapie zum Nutzen. Gefühle wie Angst, Haß und Rache muß das Kind in Wirklichkeit oft unterdrücken; diese würden das Kind bedrohen und überwältigen, können aber durch das Spiel zum Vorschein gebracht werden und Ansätze für therapeutische Maßnahmen liefern. Weiterhin kann das Kind im Spiel seinen Gefühlen freien Lauf lassen, ohne Angst haben zu müssen, daß es ernsthaften Schaden anrichtet oder für Folgen haften müßte. Im Spiel kann das Kind Phantasie entwickeln und Rollen übernehmen, die in der Wirklichkeit unvorstellbar wären. Angenehme und unangenehme Erfahrungen können wiederholt und nachgespielt werden, was den Prozeß der Bewältigung und Verarbeitung erleichtert. ...Man sieht, daß die Kinder alles im Spiel wiederholen, was ihnen im Leben Eindruck gemacht hat, daß sie daher die Stärke des Eindrucks abreagieren und sich sozusagen Herren der Situation machen ....(Freud 1920), zit.bei [93] S.176. Es hilft bei der Identitätsfindung und unterstützt die Entwicklung des Kindes. Doch schließlich spielt das Kind, um Spaß zu haben und ausdrücklich nicht, um zu lernen! Unbewußtheit des Spielmotivs und Zweckfreiheit kommen im nachfolgendem Zitat von Wygotski zum Ausdruck: ...Das Vorhandensein (...)verallgemeinerter Affekte im Spiel bedeutet (...) nicht, daß das Kind selbst die Motive begreift, die es zum Spiel veranlassen, daß ihm bewußt wird, warum es zu spielen begann. Darin unterscheidet sich das Spiel wesentlich von der Arbeit und anderen Tätigkeitsarten ...zit.bei[93] S.178.

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